Betroffene berichten

Leon

Ein Junge sitzt vor einem Computer und spielt ein Spiel.

Twitch.tv ist die Lieblingsplattform von Leon (14). Täglich sind auf der Seite mehrere Millionen Nutzer:innen online, um zusammen zu chatten, sich beim Zocken zuzugucken und gemeinsam Inhalte zu kreieren. Leon ist einer von ihnen. Am meisten bewundert Leon den Streamer "Endgamer_101", der täglich für 7-8 h am Stück für Unterhaltung sorgt. In seinem Live-Stream spielt "Endgamer_101" verschiedene Videospiele, er kommentiert Youtube-Videos, die seine Fans ihm schicken, oder er erzählt einfach über Gott und die Welt. Für Leon bietet der Lifestream von "Endgamer_101" eine willkommene Ablenkung von seinem Alltag. Durch seine Kommentare, Fragen und Anregungen im öffentlichen Chatbereich des Lifestreams kann Leon die Inhalte von "Endgamer_101" aktiv mitgestalten. Für seine kreativen Einfälle erhält er viel Zuspruch von den anderen Nutzern. Neulich hat "Endgamer_101" Leon sogar mehrmals im Stream erwähnt, weil er einen besonders lustigen Kommentar zu einem Beitrag gemacht hat. Mittlerweile hat Leon den Eindruck, dass er eine richtige Freundschaft zu seinem Lieblingsstreamer aufgebaut hat. Weil "Endgamer_101" sich in der Szene bereits einen richtigen Namen gemacht hat, erlebt Leon die freundschaftliche Verbindung zu dem Streamer als viel stärker und intensiver als das Band zu seinen realen Kontakten. Für diese besondere Freundschaft ist er einiges zu opfern bereit. Neben dem Abonnement und den Spenden, die er "Endgamer_101" regelmäßig zum Erhalt seines Accounts dalässt, investiert Leon viel Zeit, um seinem Idol online zu folgen. Dadurch geraten viele alltägliche Dinge, die Leon eigentlich sehr wichtig sind, in den Hintergrund. Hierzu gehören z.B.: Sporttreiben, etwas mit Freunden und der Familie unternehmen, in der Natur unterwegs sein und sich auf die Schulabschlussprüfungen vorzubereiten. Leons Eltern machen sich deshalb große Sorgen. Da Leon sein Verhalten als unproblematisch betrachtet und deshalb auch nicht bereit ist, etwas daran zu ändern, haben seine Eltern eine Familienberatungsstelle kontaktiert. Sie hoffen, sich dort hilfreiche Tipps einholen zu können, die ihnen dabei helfen, Leon zu einer Veränderung zu motivieren.

Stella

Ein Mädchen sitzt auf einer Treppe und schaut auf einen Laptop, den sie auf dem Schoß hat.

„Mein Name ist Stella und ich bin 15 Jahre alt. Seit ich klein bin, bin ich viel im Internet unterwegs. Diesbezüglich haben mir meine Eltern früher selten Vorschriften gemacht. Momentan bin ich oft auf TikTok. Ich liebe es dort Musikvideos und lustige Clips anzuschauen. Die Kanäle von den bekanntesten TikTokern habe ich abonniert und so verpasse ich kein Video. Am besten gefallen mir die Prank-Videos, weil man da immer was zu lachen hat oder man sich teilweise selbst total erschreckt. Da ich außerdem ein großer Fan von den Spielen „Sims“ und „Minecraft“ bin, verbringe ich manchmal bis zu 16 Stunden täglich am Laptop oder Handy, um Videos zu gucken, das Leben meiner Sims zu steuern oder die Welt von Minecraft zu erkunden. Manchmal langweilen mich die Spiele aber auch und ich überlege mir dann, in welches Spiel ich mich als nächstes vertiefen könnte. Meinen Eltern ist das mittlerweile zu viel, und wir streiten uns häufig, weil sie meinen, dass ich mir meine Zukunft verbaue. Ich finde spielen und Videos gucken aber einfach spannender als Schule. Das Problem ist, dass ich seit einem Jahr tatsächlich extrem schlecht in der Schule geworden bin und nun Angst habe, meinen Abschluss nicht zu schaffen. Durch mein ständiges Zuspätkommen, meine morgendliche Müdigkeit und meine Konzentrationsprobleme, haben sich meine Noten stark verschlechtert. Oft habe ich gar keine Lust zur Schule zu gehen und ich würde lieber einfach weiter Videos gucken oder spielen. Wenn ich zu Hause bin, gehe ich lieber an den Laptop als zu lernen oder Hausaufgaben zu machen. Meine Freunde im realen Leben nervt, dass sich bei mir alles nur ums Internet oder Spielen dreht. Ich muss zugeben, dass ich ihnen manchmal gar nicht richtig zuhöre und bei unseren Treffen häufig mit meinem Handy beschäftigt bin. Die Probleme in der Schule und der Zoff mit meinen realen Freunden sind die Gründe, warum ich in eine Beratungsstelle gegangen bin. Ich hoffe, dass mir dort geholfen wird."

Ollis Therapeut berichtet

Ein Junge hat einen Controller von einer Gaming-Konsole in der Hand.

"Olli ist 16 und hat die letzten zwei Jahre hauptsächlich vor der Playstation verbracht. Die Schule besucht er kaum noch, vor allem seitdem er letztes Jahr sitzen geblieben ist. Olli wirkt auf mich sehr erschöpft. Seine Haut ist blass. Er hat schwarze Ränder unter den Augen und er ist sehr mager. Am Anfang wollte Olli kaum mit mir reden. Er war ziemlich wütend auf seinen Vater, der ihn zu mir in die Ambulanz gebracht hat. Ollis Vater erzählte, dass sein Sohn gar nicht mehr am Familienleben teilnehmen würde und nur noch Playstation spielt. Bis vor kurzem habe der Vater Olli sogar das Essen bis vor die Playstation gebracht, weil er Angst hatte, dass Olli sonst gar nichts mehr zu sich nimmt. „Eigentlich war das aber keine gute Idee“, sagte der Vater, „weil Olli so immer weniger Gründe hatte, sein Spiel zu unterbrechen.“ Ollis Vater sieht sich am Ende seiner Kräfte. Er habe schon alles probiert. Vom „Gespräch suchen“ bis hin zur Entwendung der Playstation. Olli würde aber immer mit einer „unglaublichen Wut“ und aggressivem Verhalten reagieren. Auch würde er immer wieder Wege und Möglichkeiten finden, trotzdem spielen zu können. Nach einiger Zeit redet Olli dann doch mit mir. Er sagt, dass alles mit dem Spiel „Grand Theft Auto V“ begonnen habe, welches er früher oft mit seinem Cousin spielte. Zusammen haben er und sein Cousin viel Zeit in der virtuellen Welt „Los Santos“ verbracht, um Autos zu stehlen, sich Verfolgungsjagden zu liefern, Gegenden zu verwüsten oder sich gegenseitig zu überwältigen. Sein Cousin habe sich sogar einmal länger Urlaub genommen, um das Spiel intensiver spielen zu können. Deshalb sah Olli es auch nicht als problematisch an, wenn er selbst vier bis fünf Stunden am Tag GTA spielte. Olli begann jedoch noch häufiger und länger zu spielen, nämlich als er die Multiplayer-Modi des Ego-Shooter-Spiels „Call of Duty“ (CoD) für sich entdeckte. Besonders nach der Trennung seiner Eltern sei CoD für Olli ein wichtiges Ventil geworden, um seine Wut rauszulassen und Ablenkung zu finden. Seitdem beschäftige er sich nur noch damit, die bestmöglichen Waffenkombinationen und Taktiken herauszufinden, um bei CoD schnell im Rang aufsteigen zu können. Olli sagt, in der CoD-Welt habe er schon mehr Erfolge erzielt als im realen Leben. Von seinen Mitspielern bekäme er viel Anerkennung und er habe das Gefühl endlich Gleichgesinnte gefunden zu haben. Leute, die ihn verstehen und so akzeptieren würden, wie er sei. Trotzdem findet Olli, dass er nicht glücklich sei und das Spielen zu einem richtigen Zwang geworden ist. Er bekäme CoD einfach nicht mehr aus dem Kopf und er würde nur noch über das Spiel nachdenken. Auch die Verabredungen zum gemeinsamen Spielen mit seinen Teammitgliedern setzen ihn unter Druck, besonders wenn diese nachts mit internationalen Gamern stattfinden würden. Während des Spielens konsumiere er außerdem viel Zigaretten und Kaffee. Danach fühle er sich aber „doppelt schlecht“. Zwar habe er schon mal überlegt, sich im Spiel noch mehr anzustrengen und professioneller Gamer zu werden, aber viel lieber würde er sein Verhalten ändern und das Spielen endlich aufgeben. Das vor anderen zuzugeben, fiele ihm jedoch sehr schwer. Er wisse auch gar nicht, was er alternativ machen solle. Einen richtigen Berufswunsch habe er nicht. Beim Fußball sei er schon zu lange nicht gewesen und zu den wenigen Freunden, die er früher hatte, habe er keinen Kontakt mehr. Schließlich schaut Olli mich verzweifelt an und sagt: „Ich habe mein reales Leben komplett gegen ein virtuelles getauscht.“